Beilage zum Programmheft der Münchner Philharmoniker vom 15. Oktober 1979:

Den folgenden Beitrag von Georg Albrecht Eckle übermittelte uns GMD Sergiu Celibidache zum Abdruck. Der Artikel ist am 29. September 1979 unter dem Titel "Jubel um Meisterdirigenten Sergiu Celibidache" in den "Neuen Zürcher Nachrichten" erschienen.


Jubel um Meisterdirigenten Sergiu Celibidache

Die volle Legitimation seiner radikalen Kritik am heutigen Musikwesen und Musikverständnis hat der rumänische Meisterdirigent Sergiu Celibidache mit dem ersten Extrakonzert des Tonhalle-Orchesters erbracht, das unter seiner Leitung stand. Wie recht er hat mit seinen spitzzüngigen Angriffen - namentlich gegen renommierte Kollegen - wusste seine musikalische Wahrhaftigkeit in drei Werken Takt für Takt zu erweisen. Beglückung bei Musikern und Publikum blieb nicht aus. Der tricklosen Magie Celibidaches konnte sich kein ernstdenkender Hörer entziehen.


Die Presse hat in den letzten Monaten - namentlich als es um Celibidaches Engagement bei den Münchner Philharmonikern ging - viel getan, den heute 67jährigen Künstler ins Gerede zu bringen. Man darf ihn nicht ohne Zusammenhang zitieren, wenn man ihm nicht schaden will; der Kontext Celibidache ist seine gesamte Persönlichkeit, deren Emphase man erst begreift, wenn man selbst entschiedene Zweifel am heutigen Musikverständnis und dem daraus resultierenden kritik- und niveaulosen Musikkommerz hat, der stets auf Kosten von Werk und Komposition lebt, und zwar bis zu deren brutaler Schändung. Auch der Zürcher „Tagesanzeiger" brachte (am 26. 9. 79, Seite 21) eine Blütenlese von Celibidache-Pointen in Form eines mageren Erlebnisaufsatzes vom Reporter. Man stärkt die Fama vom Exzentrismus des Künstlers Celibidache. Es ist aber die Praxis unseres Musiklebens (und nicht zuletzt des Zürcherischen), die den echten Musiker in die Rolle des Exzentrikers bringt; wenn-er nicht bereit ist, seine musikalische Seele zu verleugnen und auf der Basis jedes faulen Kompromisses zu verkaufen. Das tut Celibidache im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen mit Konsequenz nicht. Von dieser Konsequenz legte seine erste Arbeit mit dem Tonhalle-Orchester ein bezwingendes Zeugnis ab.


Transzendierende Programm-Musik


Berlioz‘ Ouvertüre „Le Carnaval romain“, Schuberts h-moll-Symphonie, Mussorgskys "Bilder einer Ausstellung" in Ravels Orchesterfassung waren die Werke des Extrakonzertes, bei deren Aufführung unter Celibidaches behutsam-besonnener, aber ebenso strikt inspirierender Führung das Tonhalle-Orchester sich selbst übertraf. Man muss wahrscheinlich weit zurückgehen in der Geschichte des Orchesters, wenn man herausfinden will, wann es je eine derartige selbstverständliche Perfektion an den Tag legte, die der vordergründigen Brillanz entbehrt und sich ganz in den Dienst der Werkstruktur stellt, und zwar bedingungslos. Das ist, was Celibidache fordert. Alle seine Arbeit hat völlig klar umrissene Außengestalt, kehrt aber die Wirkung nach innen, „transzendiert“ sie (Celibidache bedient sich zu Recht häufig dieses Begriffes - und er darf das!) und lässt sie nicht als leere Effekte stehen. Die meisten „Spitzendirigenten“ geben sich heute zufrieden mit einem wirksamen orchestralen Großputz, dessen höchster Sinn eine blinkende Politur bleibt. Bei Celibidache lernt man das Werk wieder kennen und spürt vor allem, dass ein Orchester, dass Musiker, Individuen die Musik machen und nicht irgendein dirigentischer Dompteur. Die musikalische Fähigkeit des einzelnen Instrumentalisten wird dergestalt gefordert von Celibidache, dass alle immer solo musizieren, und er, der Interpret, nur balanciert und die werkgerechte Ausgewogenheit schafft, die musikalische Deutlichkeit ermöglicht. Die Blechbläser der Tonhalle haben vielleicht noch nie so zwingend, so konzis, so klangschön, so stark und ohne jene ungeschlachte Robustheit gespielt, die ihnen bei fast allen Dirigenten anhaftet. Fast möchte man sagen: sie waren die Könige des Abends. Celibidache wusste es zu würdigen.


Ideale Deutlichkeit


Balance und Deutlichkeit - damit ist als Bezeichnung schon viel über Celibidaches Interpretation gesagt, die fern ist von subjektivistischen Manierismen, sich aber klar zum eigenen Konzept, zur konsequenten Leseart der Partituren bekennt. Wenn der Reporter des „Tagesanzeigers“ auch meint, Celibidaches Programm bestehe aus "publikumswirksamen Reißern", dann wird er, falls er Celibidaches Konzerte hört, sein musikalisches Bewusstsein verändern müssen: alle drei Werke des Extrakonzertes klangen so, als hätte man sie noch nie gehört. Denn jenes reißerische Moment, zu dem die gewisse Brillanz der orchestralen Faktur bei Berlioz und Ravel verleiten kann, ist nur musikalisches Missverständnis. Jeder Effekt wird von Celibidache sofort als Farbe ausgekostet, aber im selben Atemzug als Sinn, als Struktur umgesetzt und erfassbar gemacht. Dabei fallen ungemein breite, fast majestätische Tempi auf, die ganz und gar auf Spannung hindenken und mehr Turbulenz erzeugen als jede Rasanz. Bei Mussorgsky geschieht das Unglaubliche: die Bildhaftigkeit der Bilder wird quälend, zeitlupenartig und mit Zähigkeit nach innen gezwungen, wo unendliche Schönheit und Tiefe entstehen. Kaum konnte man je das ursprüngliche Mussorgsky- Klavierstück in seiner strukturellen Härte so klar und modern hören wie bei Celibidaches Realisation mit dem Tonhalle-Orchester; denn die Ästhetik dieses grandiosen Musikers ist vollkommen. Er gestattet auch dem monumentalen Schluss der, "Bilder" kein überborden: alles bleibt gebändigt, auch die Ekstase. Wie für Interpreten heutzutage kaum noch, gibt es für Celibidache ein Grundgesetz: Musik darf nicht illustrieren, auch wenn sie programmatisch ist. Musik darf nur sie selbst sein. Mit Schuberts Achter gab Celibidache von seiner wahrhaft kunstsinnigen Ästhetik ein wunderbar stilles, fast demütiges Beispiel: hochgespannt, absolut den Vorschriften entsprechend (Pianissimi wurden erstmals wirklich als solche gespielt von diesem Orchester!), ohne Druck auf Nuancen - nicht einmal mit dem zweiten Thema des Kopfsatzes. Celibidaches Deutlichkeit ist fast eine Verbeugung vor Schuberts Notentext. Sie ist in ihrer Vorsicht dergestalt bezwingend, dass man - obwohl die falsche Hörgewohnheit immer "Darstellung" der Details ersehnt - endlich lernt, in der höchst ausdisponierten Balance, in der Klassizität von Celibidaches Auffassung den eigentlichen Sinn des Stückes zu finden.


Hatte man Angst gehabt vor der Konstellation dieser Werke in einem Programm - am Ende hörte man die unendliche Verwandtschaft großer Musik, wenn man sie nicht durch Deutung fälscht. Gegen diese Fälschung wehrt sich der musikalische Bekenner Celibidache mit jeder Phase seiner Existenz, seiner Subjektivität: immer zu Gunsten der Musik. Und von wem kann man das heute noch sagen? Es darf nicht sein, dass die Verantwortlichen in Zürich diesen Musiker nicht als Chef an ihr Tonhalle-Orchester binden, wenn es dafür irgendeine Chance gäbe.


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Georg Albrecht Eckle
Neue Zürcher Nachrichten vom 29. September 1979

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