Fono Forum Oktober 1996
Offene und spirituelle Horizonte
Zum Tode von Rafael Kubelik und Sergiu Celibidache

FonoForumSie hatten gänzlich unterschiedliche ästhetische Horizonte und doch so vieIe biographische Gemeinsamkeiten, deren letzte der innerhalb einer Woche erfolgte Tod beider Künstler war: Rafael Kubelik und Sergiu Celibidache, jener 1914, dieser 1912 geboren. Beide stammten aus erzmusikalischen Gegenden des östlichen Europas - aus Bychory in Böhmen und Roman in Rumänien. Für beide galt auch, dass das Kriegsende den gerade am Beginn ihrer Karriere stehenden Dreißigjährigen zum lebensbestimmenden Datum wurde.

Der Sohn des großen Violinvirtuosen Jan Kubelik hatte von Anfang an beste Verbindungen im Musikleben Prags gehabt, wo er schon als 20jähriger die Tschechische Philharmonie dirigierte. Ihr blieb er auch im 2. Weltkrieg, ohne Kollaboration mit den deutschen Besatzern, verbunden. Die Machtübernahme durch die Kommunisten 1948 ließ den gerade in England weilenden Dirigenten auf eine weitere Tätigkeit in der CSSR verzichten, wodurch er in Prag letztlich den Weg für Karel Ancerl freimachte.
Sergiu Celibidache, der in Paris und Berlin studierte und im August 1945 sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern gab, wo er für den mit Dirigierverbot belegten Furtwängler einsprang, blieb bis zu Furtwänglers offizieller Wiedereinsetzung 1952 der eigentliche Chef des Orchesters und schien beim Tod des berühmten Dirigenten der natürliche Nachfolger. Aber bekanntlich machte Herbert von Karajan das Rennen, und Celibidache wurde in die Wüste geschickt. Gastdirigate in aller Welt, ein längeres Arbeitsverhältnis mit dem schwedischen Rundfunk-Sinfonieorchester, regelmäßige Gastdirigate beim Südfunk Stuttgart sowie zahlreiche Konzerte in Italien waren Folgen der Berliner Zäsur.

Bei Rafael Kubelik waren die Positionen nach seiner Prager Demissionierung dagegen mit größerem Nimbus ausgestattet: drei Jahre Chicago Symphony Orchestra, drei Jahre Covent Garden, Tourneen mit dem Concertgebouw Orkest, ein Jahr der Zusammenarbeit mit den New Yorker Philharmonikern. Ab 1961 war Kubelik dann für fast zwei Jahrzehnte tonangebende Figur in München, wo er die Leitung des Symphonie-0rchesters des Bayerischen Rundfunks übernahm. Hier konnte der Erzmusikant seine Vorliebe für das romantische und nationalmusikalische Repertoire, worin Dvorak, Smetana, Janáček und Bartok eine große Rolle spielten, verwirklichen und in zahllosen Rundfunk und Schallplattenaufnahmen dokumentieren. Hier konnte er auch seine Beziehungen zur musikalischen Moderne intensivieren: die Sinfonien Karl Amadeus Hartmanns wurden durch ihn erstmals komplett eingespielt, die beiden Konzerte Arnold Schönbergs waren lange Zeit die einzigen im Tonträger-Katalog. Repertoire-Raritäten wie der ,,Gurrelieder" nahm er sich ebenso engagiert an wie dem Produzieren  von 0pern-Aufnahmen.

Auch Sergiu Celibidache fand sein Karriere-Ziel zuletzt in der Isar-Metropole, wenngleich viel später, nämlich erst 1979, und auch nicht bei den längst zur ersten Garnitur der deutschen Orchester zählenden Rundfunk-Sinfonikern, sondern bei den weniger renommierten Münchner Philharmonikern, denen der rumänische Vollblutmusiker zu einer überraschenden Qualität verhalf, so dass das 0rchester es schließlich mit jeder_ Konkurrenz aufnehmen konnte. Dabei favorisierte Celibidache ein Repertoire, das sich, wie bei seinem großen Vorbild Wilhelm Furtwängler, auf das dreifache B von Beethoven, Brahms und Bruckner konzentrierte: musikalische Höhepunkte einer Kunstanschauung, die Schöpfungsakte von gleichsam kosmisch-religiöser Gültigkeit präsentiert. Der Wunsch, den organischen Wachstums- und Vergehensprozessen, die in idealer Weise durch die Meisterwerke der-deutsch-österreichischen Sinfonik gegeben sind, zu vollkommenem Ausdruck zu verhelfen, ließ viele andere Kompositionen als bedeutungslos und nicht aufführenswert erscheinen. Schon Gustav' Mahler, der zerrissene, in Widersprüchen und unaufgelösten Konflikten sich artikulierende Komponist, war für den immer mehr zur Kultfigur werdenden Maestro indiskutabel, und ein qar noch weiter in die Gegenwart reichendes Repertoire undenkbar
Kubelik dagegen hatte gerade in Gustav Mahler eine seiner Gallionsfiguren und mit der Einspielung aller Sinfonien in den 6oer Jahren die erste deutsche Platten-Produktion vorgelegt: Eine in der Kontur exponiertere Variante zu den späten Bruno-Walter-Aufnahmen, der bei aller Verve Wärme und sprachliche Verbindlichkeit erhalten blieb. Engagiert wie Celibidache war auch Kubelik, aber nicht in dessen spiritueller, fast esoterischer Weise, die die Kunst als Künderin und Heilsbringerin versteht. Vielmehr war sie für den Böhmen ein Herz und Gemüt bewegender Akt. der humane Wirkung in musikantisch-belebter Klanggeste zum Ausdruck bringen konnte.

Der offene, weltläufige Horizont des einen, der enggezogene Kreis künderischen Sehens und Erfühlens des anderen: selbst noch in der Einstellung der beiden spätberufenen Münchner Dirigenten zur Rolle der technischen Reproduktion der Musik spiegelten sie sich wieder. Während Kubelik jede Gelegenheit zur Ton-Aufnahme ergriff und ihr sogar teilweise gegenüber der Konzertsaal-Darbietung den Vorzug gab, lehnte Celibidache mit Blick auf die Transzendenz des einmaligen, im Moment des Erklingens im Hier und Jetzt wirkmächtigen Schöpfungsaktes, den der Dirigent als Stellvertreter der kompositorischen Inspiration zu vollziehen habe, jede Konservierung ab.

In einer Hinsicht aber waren sich die beiden so unterschiedlichen Musiker gleich: in ihrer Zivilcourage gegenüber den Zumutungen der Macht. Celibidache hat nicht den Mund gehalten, wenn er kulturpolitische Einschränkungen oder die Mediokrität von Musikbetrieb und Kollegen anprangerte. Und Kubelik äußerte seine Kritik nicht nur öffentlich, sondern ließ ihr auch die Tat folgen, als er 1979 aus Protest gegen das Bayerische Rundfunkgesetz und seine parteipolitische Überformung vom Posten des Chefdirigenten zurücktrat. In den letzten Jahren hat Kubelik kaum mehr dirigiert -  zu sehr behinderte eine schwere Krankheit seine Möglichkeiten. Celibidache wollte trotz aller gesundheitlichen Probleme dem offensichtlichen Verfall widerstehen. Er ist am 15. August in Paris gestorben; Rafael Kubelik vier Tage vorher in Luzern.

(Bernhard Uske in FonoForum Oktober 1996) ©Copyright FonoForum


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