Die ganze Weite der russischen Landschaft
Mussorgsky
Mit Mussorgskys Bilderbogen, der zu Celibidaches besonders favorisierten Werken
gehörte, liegt nun zum ersten Mal ein Werk in zwei verschiedenen Aufnahmen
des Dirigenten vor. Während das Münchner Spätwerk aus dem Jahre
1993 einerseits durch bis ins kleinste Detail ausgehorchte Raffinessen und die
durch extreme Breite kaum mehr auszuhaltende Spannung der Schlußsteigerung
im "Großen Tor von Kiew" begeistert, andererseits in manchen Momenten von
Müdigkeit und einem Mangel an Zielgerichtetheit zeugt (warum die Verantwortlichen
nicht eine der Aufnahmen von 1986 verwendeten, ist mir unerklärlich), ist
in diesem 17 Jahre früher entstandenen Stuttgarter Mitschnitt bereits alles
enthalten, was "Celis" anhaltendes Faszinosum ausmacht: das genauestens vorgedachte
und im Konzert verwirklichte und erlebte Prinzip der Einheit (jede Einzelheit
steht in Korrelation zum Ganzen), die ganze Palette des orchestralen Farbenreichtums
und Dynamik vom zartesten Pianissimo con delicatezza bis zur berstenden Klanggewalt
des Maestoso con grandezut bei der Ankunft in Kiew. Der Abschluß ist zwingend
(von Lärm keine Spur), die Solisten des Orchesters bei ihren berühmten
Soli sind durchgehend ersten Ranges.
Strawinsky
Celibidaches Begeisterung für Strawinsky nahm im Laufe der Jahre ab. So
meinte er zum Beispiel, wenn man im "Sacre du printemps" Teile wegließe,
habe dies keinen spürbaren Einfluß auf das Ganze. Nichts steht wohl
so im Gegensatz zu seinem Motto, das Ende sei im Anfang enthalten (trotzdem
ist es schade, daß aus den Münchner "Sacre"-Plänen nie erwas
wurde). Die einzigen Werke Strawinskys, die er in den letzten 20 Jahren dirigierte,
waren "Der Kuß der Fee", die "Feuervogel"-Suite (in der Fassung von 1923)
und die "Psalmensinfonie". Die beiden ersteren liegen nun auf CD vor. "Le Baiser
de la fee" (1928) ist ein ganz eigenartiges Werk: Die "überaus hintergründige
Tschaikowsky-Phantasmagorie" (Adorno) stellte Strawinsky zum überwiegenden
Teil aus Klavierstücken und Liedern Tschaikowskys zusammen, ihr besonderer
Reiz besteht in einer bewußt ironisierenden Distanz, gepaart mit einer
für Strawinsky ungewöhnlichen klanglichen Liebenswürdigkeit.
Daß dies "Celi" entgegenkommt, ist evident, sein Spaß am lakonischen
Humor dieser Petitesse unüberhörbar (Aufnahme ebenfalls 1976). Die
Suite aus "LOiseau de feu" - "Primitive Takt- und Rhythmuswechsel, damit auch
der Dümmste mitbekommc, daß etwas Neues begonnen hat" (Celibidache)
- bekommt, was ihr gebührt: Die "Danse infernale" erweist sich ebenso als
wirklich infernalisch, wie die "Berceuse" nach dem Höllenlärm zum
Ausgleich wird. Besonders gelungen das Riesen-Crescendo des Finales, wo Celibidache
im Gegensatz zu nahezu allen seinen "Kollegen" sein Pulver nicht zu früh
verschießt und die Innenspannung bis zum triumphalen Schluß hält
(Aufnahme von 1978).
Rimsky-Korssakoff
"Scheherazade" - was für ein Stück und welch gefundenes Fressen für
"Celi" und sein gerade hier zu Hochform auflaufendes Orchester mit dem wunderbaren
Märchenerzähler Hans Kalafusz am Konzertmeisterpult! Ganz anders als
Leopold Stokowski oder gar Fritz Reiner in ihren Referenzaufnahmen geht man
hier nicht mit einem dramatischen, sondern mit einem epischen Ansatz an die
vier Sätze heran, der Erzählduktus des Werkes wird nie verlassen,
zu den gewaltigen Höhepunkten konsequent nicht aus dem programmatischen,
vielmehr aus dem musikalischen Verlauf hingeführt. Unvergeßlich (neben
der unglaublichen Durchhörbarkeit noch der kleinsten Nebenstimme - sofern
sie thematisch wichtig ist) vor allem zwei Momente: die filigrane Zartheit des
rhythmischen Mittelteils im dritten Satz und die körperliche Sogwirkung
des Schiffsuntergangs im Finalsatz. Nach dem niederschmetternden Höhepunkt
führt der Meister der Übergänge sein Orchester wie selbstverständlich
in die Erzählhaltung des versöhnlichen Abschlusses hinein, der Bilderbogen
schließt sich, die Vielfalt wurde zur Einheit. Die technisch exquisite
Aufnahme aus dem Jahre 1982 dokumentiert das Ende der Stuttgarter "Celi"-Ära,
danach konzentrierte er sich ganz auf die Münchner Philharmoniker.
Prokofieff
Sergej Prokofieffs Werke kamen dem Rhythmiker Celibidache ebenso entgegen wie
dem Melodiker, auch sein oft sehr sarkastischer Witz scheint ihn gereizt zu
haben. Zunächst zu der Bonus-CD mit drei Stücken aus dem Ballett "Romeo
und Julia": Wie nahezu alle bedeutenden Prokofieff-Dirigenten hatte auch er
sich eine eigene, etwa 45minütige Fassung aus den Suiten zusammengestellt.
Daß nur drei Stücke daraus veröffentlicht wurden, ist nicht
verständlich, das Werk inspirierte "Celi" auch in seiner Münchner
Zeit noch zu mitreißenden Aufführungen, vor allem bei Tourneen. Die
älteste Aufnahme in dieser Box (1975) konfrontiert uns mit der in den Jahren
1914/15 entstandenen "Skythischen Suite", einem Stück zwischen äußerster
Zartheit in den Nachtstimmungen des Andantinos und rabiater Brutalität.
Celibidache läßt sich hier auf eine Gratwanderung ein - alles wird
ins Extreme gesteigert und verfeinert. Den polytonalen, heute noch quälend-verstörenden
Schlußsatz mit dem "(Cortege du Soleil" als Krönung hat man so wohl
noch nie gehört. Die Fünfte Sinfonie (Aufnahme 1979) ist sicher eines
der ganz großen sinfonischen, architektonisch überzeugenden Meisterwerke
der russischen Musik. Im Vergleich zurr zwölf Jahre früher entstandenen
Aufnahme mit dem RAI-Orchester Mailand läßt die Fülle des Orchesterklangs
alle vier Sätze besser atmen, die Durchhörbarkeit und selbstverständliche
Logik der Anlage sind absolut überzeugend.
(Ludwig Robeller in FonoForum August 1999) ©Copyright FonoForum