Klassik heute - Besprechung
Mit der dritten Folge betrachtet die EMI ihre "erste autorisierte
Celibidache-Edition", die der Zusammenarbeit mit den Münchner Philharmonikern
von 1979 bis zu Celibidaches Tod 1996 gewidmet ist, als abgeschlossen. Leider,
möchte man sagen - denn gegenüber dem von der Promotion ausgiebig zitierten
Begriff der "Vollendung" sind zumindest programmpolitische Zweifel angesagt. Die
Zyklen der Beethoven- wie der Schumann-Sinfonien bleiben unvollständig (es
fehlt jeweils die Erste), so dass der interessierte Hörer nach wie vor auf
Raubpressungen angewiesen ist.
Ebenso unvollständig - und das ist noch bedauerlicher - bleibt das Bild von
Celibidaches Tätigkeit in München, denn die Edition beschränkt
sich ausschließlich auf die gängigsten Standardwerke, während
Celibidaches Repertoire in München von Heinrich Schütz bis zu Peter
Michael Hamel reichte, verschiedene Uraufführungen einschloss und zahlreiche
Raritäten, wie etwa das Requiem von Max Reger, die Musik für Orchester
von Rudi Stephan oder die Petite Suite von Albert Roussel enthielt, die wahrhaft
der Veröffentlichung wert wären! Fast scheint es, als sollte das gelegentlich
geäußerte Vorurteil von Celibidaches "schmalem Repertoire", so unhaltbar
es auch ist, nachträglich genährt werden. Bleibt zu hoffen, dass sich
ein couragierteres Label des reichen Erbes annimmt. Doch halten wir uns an das,
was EMI jetzt (wiederum in gediegener Ausstattung mit zum Teil interessantem Text-
und Bildmaterial, leider aber auch wieder garniert mit störendem Applaus)
präsentiert - und das ist gewichtig genug. Celibidaches Beethoven enthielt
sich jeder pseudo-heroischen Gebärde ebenso wie jeder Sentimentalität,
war gleich weit entfernt vom zackig-"metronomgerechten" Exekutieren der Noten
wie vom modisch-oberflächlichen Aufrauhen des Klangs - und damit praktisch
von allem, was Dirigenten heute noch zu Beethoven einfällt. Celibidache ging
es darum, Musik als Entwicklungsprozess erfahrbar zu machen, die Kräfte aufscheinen
zu lassen, die einen Satz ernähren, die Beziehungen offenzulegen, die jedem
Detail seinen unabänderlichen Stellenwert zuweisen.
Nichts war mechanisch, nichts war beliebig. Ohne dass er je mit erhobenem Zeigefinger
oder mit dem Metronom in der Hand (wie manch einer seiner Kollegen) dozierend
dahergekommen wäre, wohnte Proben und Konzerten eine didaktische Komponente
inne: Das musikalische Geschehen wurde in seiner Konsequenz unmittelbar verständlich,
der Verlauf als zwingende Einheit evident. Die plastische Phrasierung, die dem
problematischen Finalsatz der Eroica ein völlig neues Gesicht gibt, die grandiose
Flächigkeit, die der Pastorale eine außergewöhnliche lyrische
Qualität verleiht, die Unbeirrbarkeit, mit der die Konfrontation der Strukturen
als formbildendes Element im Kopfsatz der Siebten herausgearbeitet wird, die Folgerichtigkeit,
mit der im Scherzo der Neunten Beethovens Tempovorschriften ernst genommen werden
- Elemente einer Beethoven-Darstellung, wie man sie nie zuvor hören konnte.
Und bei der Wahrnehmung dieser Reichtümer empfindet man die Tempi durchaus
nicht mehr als so langsam, wie sie zunächst im Vergleich mit Gewohntem erscheinen.
Bedeutender noch ist der Zyklus der Brahms-Sinfonien, Frucht von Celibidaches
lebenslanger Beschäftigung mit diesen Werken und Zeugnis einer ganz seltenen
Kongruenz von Schöpfer und Nachschöpfer. Hier fordert die EMI-Edition
zum direkten Vergleich mit den bei DG erschienenen Stuttgarter Aufnahmen heraus,
die Mitte der siebziger Jahre entstanden sind. Vor allem die Erste und die Dritte
profitieren von der sonoren Klangfülle und dem warmen Glanz der Münchner,
während etwa dem Finale der Zweiten oder dem Allegro giocoso der Vierten
der schlankere Klang und der reaktionsschnellere Zugriff der Stuttgarter zugute
kommen. Überhaupt vermisst man in den Münchner Aufnahmen dieser beiden
Sinfonien ein wenig das Feuer und die Spontaneität des früheren Celibidache.
Der viel beschworene "Altersstil" des Maestro war durch mehrere Faktoren bedingt:
Persönliche Reife, die spezifische Qualität des Orchesters und nicht
zuletzt die Akustik der riesigen Philharmonie am Gasteig - was dort glaubhaft
erschien, ist es im häuslichen Wohnzimmer durchaus nicht immer. Insofern
sind die Voraussetzungen bei den Stuttgarter Aufnahmen, aber auch bei den frühen
Münchner Aufnahmen aus dem Herkulessaal besser.
Auch sonst liegen bei einer solchen Kollektion von Live-Mitschnitten Licht und
Schatten dicht beieinander, Nicht immer handelt es sich um orchestrale Sternstunden.
Am ehesten machen die Streicher dem Ruf eines Weltklasseorchester Ehre. Bei den
Holzbläsern gibt es manchen Wildwuchs und das ungemein klangschöne Blech
liebt es gelegentlich, seine Eigenständigkeit zu demonstrieren. Dennoch:
Wo gibt es heute noch ein Orchester, das zu so kammermusikalischem Korrespondieren
zwischen Solisten und Gruppen fähig ist, wo noch ein Orchester, das auch
im forte immer singt und niemals schreit?! Nicht immer war die EMI bei der Auswahl
der Aufnahmen gut beraten. So sind mir beispielsweise von Schumanns Zweiter, einem
Lieblingswerk Celibidaches, elektrisierendere Aufnahmen in Erinnerung. Dafür
hat man kaum je eine schlüssigere Aufführung der Haydn-Variationen gehört
als jene vom November 1980 aus dem Herkulessaal, die auf der gleichen CD enthalten
ist. Höhepunkt dieser Folge ist der Mitschnitt des Deutschen Requiems von
1981 aus der Münchner Lukas- Kirche. Mit seiner ungeheuer differenzierten
Chorarbeit entwarf Celibidache ein Gegenbild zur landläufigen al fresco-Praxis.
Jenseits aller Aufführungstraditionen und äußerlichen Effekte
gab er dem Werk eine zutiefst anrührende menschliche Dimension, die auch
von den Solisten überzeugend realisiert wurde.
Sicher eignen sich die zehn CDs dieser Box kaum zum "Nebenherhören" beim
Frühstück oder Zähneputzen. Wer sich jedoch konzentriert hörend
darauf einlässt, dem offenbaren sie bei den bekanntesten Werken neue Welten
und ungeahnte Zusammenhänge. Natürlich ersetzen sie nicht das Erlebnis
einer Konzertaufführung, doch auf Tonträger kann man nirgends sonst
so viel und so Wesentliches über die betreffenden Werke erfahren wie aus
dieser Edition.
(Peter T. Köster in KLASSIK heute 11/99)
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