Den Schleier ablegen
Manchmal ist es schwer zu verstehen, was Herausgeber zu Fehlhandlungen bewegt. Im Falle dieses kleinen, nobel gefertigten Büchleins ist unverständlich, dass man, obwohl es sich am 21. Juni 1985 an der Münchner Universität um die gleichrangig vorgetragenen Referate zweier Koryphäen ihres Fachs handelte, nun nur den Namen des zweifellos prominenteren Autors auf dem Cover nennt. Die akademischen Gedanken Rudolf Bockholdts zur rechten Verwendung des Interpretationsbegriffs werden nur als unauffällige Beigabe anfügt, obendrein in kleinerem Druckbild! Das ist ein peinlicher Fall von Diskriminierung, denn man dürfte es wohl doch dem Leser überlassen, wie er das - sicherlich disparate - Verhältnis der Gedankenwelten der beiden Autoren zueinander beurteilt.
Der Celibidache-Vortrag "Über musikalische Phänomenologie" ist angesichts der wackligen Tonband-Quellenlage sehr sorgfältig von Gundolf Lehmhaus ediert worden. Es ist allerdings sehr fragwürdig, ob auch die aufmerksamste Lektüre ohne weiteres zum Verständnis der phänomenologischen Methode bezüglich der Musik verhelfen kann. Nicht umsonst schließt Celibidache seinen Vortrag mit dem Hinweis auf die Warnung seines großen Lehrers Heinz Tiessen, dass die Chancen "dieser einsätzigen Denksymphonie, wo die Klänge des mitresonierenden Zuhörers nicht ohne weiteres zu hören ... sind", gering bleiben. Er selbst, bekennt er, sei durch die Spuren schlimmster Willkür in der Musik zur Phänomenologie gekommen - "Also: Kampf unerbittlicher Kampf der Willkür, unter welchen Aspekten sie auch immer wieder auftauchen mag. Es muss im Menschen selber die Mittel dazu geben ..."
Insgesamt ist dieser Diskurs durch die (Gründe der Musikphänomenologie ein teils sehr spontan gefärbter Zick-Zack-Kurs, den mehrfach zu lesen - mal eher vogelperspektivisch, dann wieder im Ringen um kleinste Details - unbedingt zu empfehlen ist, um unter die erscheinungsreiche Oberfläche zu dringen. Treffende Bonmots bleiben nicht aus ("Der Musikliebhaber, der Rimskij-Korssakov "süßlich" findet, bringt seinen Diabetes in jedem Konzert mit."). Doch das sinnvolle Verknüpfen der wesentlichen Aussagen kostet den Studierenden die offene Auseinandersetzung mit einem Stoff, den er womöglich bis dahin ganz anders betrachtet hat.
Die Musik-Phänomenologie geht grundsätzlich von zwei Studien-Pfaden aus: "Das Objektivieren des Klanges, und zweitens: das Studium der vielfältigen Weise, wie der Klang eindeutig auf das menschliche Bewusstsein einwirkt." Die etablierte Musikwissenschaft wird attackiert, denn was sie "grundsätzlich ignoriert, ist die zeitliche Struktur des Erscheinens der Epiphänomena [des Klanges] und ihre in der Affektwelt des Menschen reflektierende Implikation ... Das Wesen der Musik ist in der Beziehung Ton-Mensch und den Entsprechungen zwischen dieser zeitlichen Struktur des Klanges und der Struktur der menschlichen Affektwelt zu suchen."
Da unterbleibt natürlich nicht die Untersuchung des menschlichen Geistes, der "eine in sich geschlossene, unteilbare Entität" ist, "die ständig einer Vielfalt von Erscheinungen gegenübersteht. Er ist also ... eine ,Eins', und kann nur mit einer anderen ,Eins' auf einmal zu tun haben ..." Um nun beim Springen von Wahrnehmung zu Wahrnehmung die ihrem Wesen nach zeitlose Beziehung zwischen den einzelnen Punkten zu erleben, muss der Geist nicht nur in der Lage sein, das Angeeignete stets sofort wieder zu verlassen, sondern die einzelnen Punkte zu einer höheren Einheit zu transzendieren. Daher ist zu verstehen, dass Celibidache musikalische "Begabung" mit "Korrelationsfähigkeit" definierte. "Was bleibt, ist die [ musikalische] Beziehung, die nur durch Transzendenz erfahrbar ist." Das ist prinzipiell jedem möglich, doch nicht jeder kann jederzeit "das, was zwischen seinem reinen Bewusstsein und der Realität als farbiger Schleier fungiert, beseitigen und ablegen ... Wenn der Klang unterschiedlich wirkt, ist das nur auf den unterschiedlichen Zustand der egobedingten Trübungen der Wahrnehmung ... zurückzuführen." Klare, radikale Einsichten in das, was die Menschen trennt, und so kann diese Veröffentlichung ein wesentlicher Beitrag zu weiterer Auseinandersetzung mit dem sein, was Celibidache ein Leben lang am Herzen lag und doch von den meisten nur ganz oberflächlich oder überhaupt nicht verstanden worden ist.
Bei allem Respekt vor seiner teilweise eigenwilligen Sprachdiktion hätte übrigens manche amüsante Schrulle doch noch Verbesserung vertragen, so das typische "wir kommen noch darüber [statt "darauf"] zurück". Was der Qualität des Vortrags, dem hoffentlich bald weitere einschlägige Literatur folgt, keinen Abbruch tut.
Christoph Schlüren (Fono Forum Mai 2002) ©Copyright FonoForum
Sergiu Celibidache, Über musikalische Phänomenologie
( + Rudolf Bockholdt, Über musikalische Interpretation u. a.),
hrsg. von Gundolf Lehmhaus. Triptychon, München 2001, 96 S., Euro 16,50.