21.12.1946 - Deutsche Erstaufführung der 7. Sinfonie von Schostakowtisch

"Vielleicht sind das Muttertränen..."

Sinfonie um den Krieg

In ihrem 11. Konzert spielten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sergiu Celibidache die Sinfonie Nr. 7 Opus 60, in 4 Sätzen von Dimitri Schostakowitsch. Es war die deutsche Erstaufführung des Werkes.

Uraufgeführt wurde die Sinfonie am 5. März 1942 in Kujbyschew, dem früheren Ssamara an der Wolga. Damals spielten die Leningrader Philharmoniker unter Eugen Mrawinskij. Das große russische Orchester war damals an die Wolga evakuiert worden.

Die Londoner Erstaufführung erfolgte drei Monate später unter Henry Wood. Wiederum vier Wochen später hörte die New Yorker zum ersten Male diese Schostakowitsch-Sinfonie. Toscanini dirigierte.

Die Sinfonie wird in späteren Zeiten als historisches Dokument gelten. Sie entstand in dem von deutschen Truppen eingeschlossenen Leningrad. Schostakowitsch arbeitete daran, während die Stadt unter ständigem Bombenhagel und mörderischem Artilleriebeschuß lag.

140 Mann spielten 1 3/4 Stunden lang. Aber man wird nirgends von Lärm oder von einem paroxistischen Zuviel erschlagen. Plastische Themen, deutlich erkennbar selbst im Fortissimo, werden abgelöst von sehr zart zurückhaltenden lyrischen Passagen, wahren Kantilenen und schönen Soli der Instrumente.

Der Komponist erklärt selbst zu diesem Opus: "Der erste Teil der Sinfonie handelt davon, wie eine furchtbare Gewalt - der Krieg - mitten in unser schönes friedliches Leben hereinbrach. Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, die Kriegshandlungen naturalistisch darzustellen - das Dröhnen der Flugzeuge, das Rollen der Panzer, die Salven der Kanonen - ich habe keine musikalische Schlachtenmalerei erzeugen wollen. Ich wollte nur den Inhalt der schicksalsschweren Ereignisse wiedergeben. Die Exposition des ersten Teiles der Sinfonie berichtet von dem glücklichen Leben von Menschen, die ihrer selbst und ihrer Zukunft sicher sind. Es ist das schlichte friedliche Leben, das Tausende von Leningrader zusammen mit dem Sowjetvolk geführt haben. Das Thema Krieg geht durch die ganze mittlere Episode. Den Mittelpunkt des ersten Teils bildet ein Trauermarsch oder besser gesagt: Ein Requiem für die Gefallenen des Krieges. Dem Requiem folgt eine noch tragischere Episode. Ich weiß nicht, wie ich diese Musik kennzeichnen soll. Vielleicht sind das Muttertränen oder ein Gefühl so tiefer Trauer, daß auch die Tränen versiegen. Nach einem Fagottsolo, das den Schmerz über die gefallenen Freunde zum Ausdruck bringt, folgt das verklärte lyrische Finale des ersten Satzes. Ganz zu allerletzt hört man noch, wie aus weiter Ferne, das Thema Krieg, das an den andauernden Kampf erinnert."

Schostakowitsch spricht aus, was ihm auszudrücken gelang. In sublimierter Form, nicht etwa als illustrative Musik für ein Hörspiel oder einen Filmstreifen, gestaltete er musikalisch die Wirkung des Kriegsgeschehens. Die grausam gesteigerte Monotonie des Marschthemas, in der Zermürbungstaktik an Ravels Bolero erinnernd, suggeriert die zermalmende Gewalt der sinnlosen Kriegsmaschine.

Der zweite Satz fügt hierzu im Kontrast Erinnerungen an vergangene Freuden, ein wehmütiges Scherzo. Der dritte Satz, ein pathetisches Adagio, ist von religiöser Stimmung erfüllt. Ihm schließt sich unmittelbar das Finale an, das von der grandiosen Vision des kommenden Sieges gekrönt wird. Eine mitreißende, unvergeßliche musikalische Apotheose.

Der Beifall war sehr stark. Im Publikum hörte man von einem "Musikereignis von internationaler Bedeutung", von einer "Meisterleistung eruopäischer zeitgenössischer Musik" und ähnlichem sprechen.

Celibidache verteilte an die Orchestermitglieder die Chrysanthemen der ihn gespendeten Sträuße. Die Wochenschau filmte.

"DER SPIEGEL" Sonnabend, 4. Januar 1947

zurück